Sonntag, 23. April 2023: Die Streichholzbibel
»Alle strammstehen!«, herrschte der Lagerkommandant die Häftlinge an, die gerade beim trüben Licht einer Glühbirne ihre Mittagssuppe löffelten. »Durchsuchung!« Drei Soldaten kontrollierten die Baracke gründlich und förderten die letzten Schätze der Gefangenen zutage, die sie durch bisherige Kontrollen hatten retten können: ein Foto, ein Stück Seife und einige Zigaretten. Aber der kostbarste Schatz blieb unentdeckt und befand sich auf dem Boden der Suppenschüssel: eine Mini-Bibel.
Für viele gläubige Soldaten in der UdSSR, denen der Besitz einer Bibel strengstens verboten war, waren diese Mini-Ausgaben der Evangelien der größte Schatz. Sie wurden in den 70er-Jahren im Westen hergestellt und hinter den Eisernen Vorhang geschmuggelt. Sie waren kaum größer als eine Streichholzschachtel, die unzerreißbaren, wasserfesten Seiten aus einem speziellen Material hergestellt, das auch bei minus 40 °C noch biegsam war, aber auch Hitze aushielt. Sie konnten im Schnee, im Suppentopf oder Trinkbecher versteckt werden.
Warum wurde der Aufwand betrieben, so etwas Ungewöhnliches zu produzieren? Warum gingen Menschen das Risiko ein, diese Mini-Bibel zu besitzen, wo doch bei ihrer Entdeckung Folter, Tod oder Einzelhaft drohte? Die Bibel war immer gefürchtet und bekämpft von totalitären Regimes, die ihre Macht mit niemandem teilen wollten. Aber auch geliebt und unter größten Risiken gelesen von Menschen, die darin Trost, Heil und Leben fanden. In der Bibel muss mehr stecken als ein paar dumme Märchen-Geschichten. Sie ist zu brisant, als dass man sie ungelesen im Regal verstauben lassen sollte. Zu wichtig, als dass man sie ignorieren dürfte. Nutzen wir doch die Freiheit, in der wir leben, und lesen selbst, was dieses alte Buch zu sagen hat!
Elisabeth Weise
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- Psalm 119,161-176