Ist das Liturgie oder kann das weg?
Ein Beitrag über den Umgang mit Liturgie in der modernen Zeit. Grundlage sind Überlegungen, die ich in der Presbytersitzung am 21. Juni 2023 vorgelegt habe. Wie immer gilt: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“
Immer wieder werden Bedenken gegen eine klassische Liturgie geäußert. Die Frage, die die Bedenken oft anleitet lautet: Ist das für kirchenferne Menschen noch ansprechend oder kann das weg? Um den Gottesdienst für Außenstehende ansprechender zu machen, möchte man die Gesangbuch-Liturgie den Bedürfnissen moderner Menschen anpassen. Dass davon alle Gottesdienstteilnehmer weniger haben, ist die nötige Konsequenz. Doch am wenigsten hat davon am Ende die Zielgruppe selbst.
Das Wort Liturgie (gr. leiturgía) bedeutet „Gemeindedienst“ bzw. „öffentlicher Dienst“ gegenüber Gott. Weil Liturgie so verstanden wird, nämlich als Dienst der Gemeinde, ist sie a) einladend. Sie ermöglicht Fremden mitzumachen und beteiligt sie aktiv am Gemeindedienst (Liturgie). Und Liturgie befestigt b) Glaubensüberzeugungen. Sie verkündigt und wiederholt grundlegende Kernaussagen christlichen Glaubens. Sie bereitet die Gemeinde auf eine Zeit vor, wenn christliche Grundsätze infrage gestellt werden (z.B. die klassische Christologie).
Im 4. Jhd. n. Chr. kam der Arianismus auf. Manche behaupteten: Jesus, der Gottessohn, sei weniger Gott als Gott der Vater. Über die neue Lehre brach ein großer Streit unter Christen aus. Bischöfe betrachteten diese neue Lehre als gefährlich – unter ihnen ist auch Basilius der Große. In Abwehr gegen die neue Irrlehre verstärkte er die Liturgie mit trinitarischen Lehraussagen. Seine Absicht war es, dadurch Spaltungen vorzubeugen und den Glauben der Gemeindeglieder zu stärken, um sie auf mögliche Konfrontationen vorzubereiten.
Welche Spaltung(en) drohen uns und wo müssen wir unserer Liturgie sensibler „verstärken“? Vielleicht müssen wir sensibler dafür werden, dass die Gesellschaft ihren gemeinsamen Handlungszweck infolge narzisstischer Selbstbestimmung verloren hat. Eine Liturgie, die als Dienst der Gemeinde verstanden wird, weckt gegenüber der Moderne ein unbehagliches Gefühl. Vor diesem Hintergrund vermute ich, dass Liturgie selbst als gemeinsamer Dienst an Gott in Gefahr steht.
In der modernen Zeit gewichten Menschen Einzelleistungen höher. Sie bilden ihr Selbstbewusstsein, ihren Selbstwert, in der Unterscheidung zu ihren Mitmenschen. Sie haben das Gefühl, einem Ideal folgen zu müssen, das nur sie kennen. Würden sie dem nicht folgen, hätten sie ihr Leben vergeudet. Das Hören auf die innere Stimme verspricht Originalität und Authentizität: „Bleib dir selbst treu!“ Dieses moralische Ideal will ich nicht verteufeln. Doch die Konsequenz daraus ist, dass kein gemeinsames Handlungsziel besteht. Jeder folgt der Verwirklichung seines eigenen Ich- bzw. Lebensprojekts.
Ohne gemeinsames Handeln verkümmert die Liebe. Dieser Mangel wird deutlich an den verschiedenen Fronstellungen, die unsere Gesellschaft spalten. Der Individualismus hat hier keine einigenden Kräfte, sondern fördert die Frontstellungen in der Gesellschaft. Er bestimmt die Art, wie über Themen gesprochen wird. Komplexen Themen kann man nur zustimmend oder ablehnend gegenüberstehen. So kommt es über diese Themen zu Spaltungen (Corona-Impfung, Aufnahme von Flüchtlingen, E-Mobilität, eine diplomatische Lösung zwischen Russland und der Ukraine). Weitere Spaltungen kommen mit neuen Fragestellungen hinzu, bis kein gemeinsamer Handlungszweck mehr erkennbar ist. In Deutschland stehen SPD und AfD in Umfragewerten zurzeit gleichauf. Eine ganze Gesellschaft weiß nicht mehr, worauf sie eigentlich hinarbeitet.
Von der Gesangbuch-Liturgie können wir etwas lernen: In der neuen Welt Gottes wird es einen gemeinsamen Handlungszweck geben. In der neuen Welt Gottes gibt es Einheit und bestimmungsvolles, gemeinsames Handeln. Das eigene Lebensprojekt dient einer größeren Sache. Ein Vorgeschmack darauf gibt der Gemeindedienst, die Liturgie, schon hier und jetzt. Jeder kann sich entscheiden, ob er das einmal möchte.
Für Basilius den Großen gab es die Möglichkeit, dass die Liturgie verstärkt und damit angepasst werden konnte. Aber sie wurde nicht daran beurteilt, wie sehr sie Außenstehende anspricht. Schließlich ist unser größter Feind nicht die Langeweile, von der wir erlöst werden müssten, sondern von der Sünde und ihren Folgen, von Leid und Tod.
Es existiert die Meinung, dass eine Mischform nichts sei. Der Gottesdienst müsse entweder modern oder klassisch sein. Das ist eine Frontstellung, die uns spalten kann. Diese Entweder-oder-Haltung halte ich für falsch aus folgendem Grund: Unsere Kirchengemeinde setzt sich selber aus ganz unterschiedlichen Menschen mit verschiedenen (politischen und religiösen) Prägungen zusammen. Kirche ist eine Mischform. Erst in dieser Mischform erweist sich die Wahrheit des Evangeliums und die Macht des Heiligen Geistes, damit sichtbar wird, wer der Christus ist: Er ist Herr über alle Völker.
Paulus schreibt: „Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus. So […] ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat“ (Kolosser 3, 11-13). Das heißt, Gemeinde ist der Ort, um Liebe zu lernen. Und Gesangbuch-Liturgie ist darin richtig gut, den Gemeindedienst so zu formen, dass Liebe untereinander gefordert und gefördert wird. Diese Liebe kann fehlen wie z.B. gegenüber dem Gemeindedienst der katholischen Schwestern und Brüder. Manche haben die Haltung, dass sie sich nicht freiwillig dort hineinsetzen würden. Vielleicht findet dasselbe auch bei uns statt – nur haben wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich etwas ändern wird.
Würde die gewohnte Liturgie durch „freie“ Formen ersetzt werden, würde der Gesellschaft und uns selbst etwas Kostbares vorenthalten werden: Im Bereich unseres Zusammenlebens würde der Blick auf die neue Welt Gottes fehlen und die Erfahrung, ein Teil des Leibes Christi zu sein, wäre weniger spürbar. Liturgie lädt ein, gemeinsam zu handeln – Kirche zu werden und zu bleiben. Die Liturgie ist Einladung an den SPÖler genauso wie an den FPÖler, sie eint beide unter der Herrschaft Gottes. Im gemeinsamen Gebet sind ihre Herzen versöhn. Im gemeinsamen Stehen vor Gott erwarten sie einmal wieder nebeneinander zu stehen, dann aber vollends versöhnt und getröstet in der neuen Welt. Liturgie gibt dem Volk Gottes einen gemeinsamen Zweck, wozu die Gesellschaft nicht in der Lage ist.
Klassische Liturgie rüstet die Gemeinde hervorragend zu. In unversöhnten Zeiten bricht Gottes neue Welt durch sie hindurch. Im Rahmen der klassischen Liturgie findet die Gemeinde die Möglichkeit, sich auf den anderen einzulassen – an seiner/ihrer Seite Gott zu dienen – das eigene Lebensprojekt einem größeren Ganzen unterzuordnen. Grundlegend dafür ist, dass die Gemeinde die Form des Gemeindedienstes nicht selbst bestimmt, sondern ihn von älteren Generationen übernimmt. An diesem Liebesakt der Übernahme sind Singles und Familien gleichermaßen beteiligt. Das ist wunderbar. Ganz besonders habe ich diese Liebe in der Osternacht erfahren, als die Jüngeren von Herzen traditionelles Liedgut mitsangen. Umgekehrt wird diese Liebe deutlich, wenn immer unsere älteren Geschwister offen sind für Lieder, die nicht ihrer Jugendzeit entstammen.
Das Volk Gottes ist das komplexeste Phänomen auf Erden. Gregor von Nazianz beschreibt die Kirche als Tier, das aus verschiedenen Tieren zusammengesetzt ist. Nur Gott ist fähig dazu, sie zu beherrschen. Die Anpassung der Liturgie an eine Zielgruppe macht das Evangelium in unserer Mitte weniger sichtbar. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Fixierung auf eine Zielgruppe alle weniger hineinbildet in die Geschichte Gottes. Das gilt ganz besonders der Zielgruppe, auf die der Gemeindedienst zugeschnitten werden soll.
– Philip Gröbe