Montag, 15. August 2022: Der Splitter
Meine Urgroßmutter gehört mit zu den Frauen, die im Zweiten Weltkrieg auf ein Lebenszeichen hofften. Zu dem Zeitpunkt, als der Krieg endete, hatte sie noch keinen Todesbrief in Bezug auf ihren Mann erhalten. So wartete sie voller sehnsüchtiger Spannung auf ihren Mann. An einem Tag, als der Zug mit den zurückkehrenden Soldaten auch in ihrem kleinen Dorf haltmachte, stellte sie sich in die Haustür, um zu spähen, ob sie ihn schon von Weitem erblicken könnte. Und tatsächlich lief bald ein Mann die Straße herunter, der unverkennbar der ihre war. Könnt ihr euch die Freude vorstellen, diese unfassbare Freude?
Aber wie eine Silvesterrakete den Nachthimmel nur kurz erleuchtet und der Nacht dann ihre Finsternis wieder zurückgibt, so war auch dieser Freudenstrahl. Denn das Undenkbare geschah: Im Straßengraben war ein Blindgänger liegen geblieben, eine Granate, die nicht gezündet hatte. Genau in dem Moment, als Minnas Mann den Straßenabschnitt Richtung seiner Haustür beschritt, ging sie hoch. Ein langer Splitter bohrte sich in seinen Nacken, sein Lebenslicht flackerte nur eine Sekunde noch und erlosch auf der Stelle. Könnt ihr euch die Finsternis vorstellen, die sich da auf diese Frau gelegt haben muss? Ist das nicht zu grausam, um wahr zu sein? Minna sank im Wohnzimmer zusammen und brachte gänzlich geschlagen, aber mit unerschütterlichem Glauben unseren Tagesvers hervor. Wie schwankend der Glaube und wie lähmend betäubend der Schmerz auch für sie wahrscheinlich zuzeiten gewesen ist – sie kannte ihren Gott.
Sollte Gott mir oder Ihnen heute etwas oder jemanden sehr Wertvolles nehmen, so will ich und so sollten auch Sie umso mehr an ihm festhalten, denn er ist barmherzig mit allen, die vor ihm aufrichtig sind; ihnen strahlt sein Licht auf (Psalm 112,4).
Jannik Sandhöfer
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- Was ist Ihr Licht in der Finsternis?
- Ohne Gott wird es nur noch trüber und dunkler im Herzen.
- Psalm 112